Laut der aktuellen Studie eines Soziologen haben deutsche Jugendämter vermehrt Müttern ihre Kinder entzogen und ins Heim gegeben. Der Grund: Die Beziehung sei zu eng. Was erlaubt sich der Staat?
Wann ist die Beziehung symbiotisch? Deutsche Behörden gehen nach Expertenmeinung vorschnell davon aus, dass alleinerziehende Mütter ihren Kindern mit zu viel Zuwendung schaden
Fünfzehn Monate lang hatte Joshua seine Mutter nicht gesehen. „Wir trafen uns in einem Café in Kiel“, erzählt Antonia Velios, „er flog mir in die Arme und wollte mich nicht mehr loslassen.“ Zwei Jahre ist das jetzt her. Antonia Velios kann heute noch nicht davon berichten, ohne dass ihr die Tränen aufsteigen.
Vier Jahre hat ihr Sohn im Heim verbracht. Eine rechtswidrige Entscheidung des Jugendamtes hatte dazu geführt, dass der Junge mit zehn Jahren seine Mutter gegen seinen und ihren Willen verlassen musste. Es hat sechs Gerichtsverfahren gebraucht, um die verheerende Entscheidung wieder rückgängig zu machen. Und 15 Monate lang hatte das Jugendamt sogar eine Kontaktsperre zwischen Mutter und Sohn verhängt – der Junge könne sich sonst im Heim nicht einleben.
Joshua ist jetzt 15 Jahre alt. Seit Februar ist er wieder zu Hause. „Man merkt ihm an, dass er einiges durchgemacht hat“, sagt seine Mutter. „Er verdrängt viel, ist manchmal ohne Anlass frustriert und hat Schlafprobleme.“ Eine Therapie möchte er derzeit nicht machen. Joshua möchte am liebsten alles vergessen.
Sein Vater hatte 2014 den entscheidenden Antrag gestellt, ihm das alleinige Sorgerecht zu übertragen, die Mutter sei nicht erziehungsfähig und habe eine symbiotische Beziehung zu ihrem Kind, das sich nicht frei entfalten könne. Zehn Jahre lang hatte der Streit schon getobt, seit Joshuas Geburt – da hatte sich das Paar bereits getrennt.
Das Jugendamt war stets aufseiten der Mutter gewesen, aber ein Mitarbeiterwechsel drehte den Fall der Familie plötzlich um 180 Grad. Per Eilentscheidung erhielt der Vater das alleinige Sorgerecht. Das Familiengericht hörte Joshua nicht einmal an. Doch vom Vater haute der Junge wieder ab, das Jugendamt organisierte eine Unterbringung im Heim.
Dutzende Fälle haben eine verstörende Gemeinsamkeit
Ein tragischer Einzelfall, möchte man meinen. Doch das trügt, wie eine Studie des Hamburger Soziologen Wolfgang Hammer zeigt. Hammer ist Experte im Jugendhilfewesen. Er saß in zahllosen Gremien, war Koordinator der Bundesländer für den Bereich Kinder- und Jugendpolitik. „An mich sind durch Anwälte, Betroffene und Whistleblower aus den Jugendämtern so viele fragwürdige Fälle von Inobhutnahmen herangetragen worden, dass ich mich zur Erstellung einer Fallstudie entschieden habe“, sagt Hammer.
42 Fallverläufe von sogenannten Fremdunterbringungen, die zwischen 2014 und 2019 in sechs Bundesländern gegen den Willen von Eltern und Kindern erfolgten, hat der Soziologe untersucht. Er hat Hilfepläne und Gerichtsbeschlüsse studiert, Gespräche mit den Betroffenen geführt.
Die verstörende Gemeinsamkeit: Alle 42 Fälle betrafen alleinerziehende Mütter und Großmütter. Sie hatten sich selbst mit der Bitte um Unterstützung an das Jugendamt gewendet – wegen Unterhaltsforderungen etwa oder der Bitte um eine Mutter-Kind-Kur. Auch um Erziehungsprobleme und Überlastung im Alltag ging es in den Gesprächen.
In keinem der Fälle lag eine drohende Kindeswohlgefährdung durch Gewalt oder Vernachlässigung vor. In keinem Fall gab es Meldungen von der Schule. Dennoch entschieden die zuständigen Jugendämter, den Müttern ihre Kinder wegzunehmen und in ein Heim zu stecken. Die Begründung: Eine „zu enge Mutter-Kind-Beziehung“.
Laut Bundesverfassungsgericht kann eine symbiotische Beziehung nur dann kindeswohlschädigend sein, wenn ein Kind „von Außeneinflüssen ganz abgeschottet wird und seelisch völlig abhängig ist von einem Elternteil mit der Folge von Entwicklungsrückständen und psychosomatischen Erkrankungen“. Ein psychologisches Gutachten wurde jedoch in den untersuchten Fällen nicht eingeholt. Stattdessen stützten sich die Jugendämter auf die Einschätzung von Sozialarbeitern, Nachbarn, Ex-Partnern und deren Eltern, die „durchweg extrem zulasten der Mütter ausfielen“.
Anfangs folgten dem auch die Familiengerichte – „zu naiv und zu gutgläubig“, wie Hammer meint. „Eine Herausnahme ist rechtsstaatlich nur vertretbar, wenn ich eine fachlich solide Diagnose habe. Eine Gefährdungsmeldung, die auf laienhaften, nicht belegbaren Vermutungen beruht, darf ein Gericht gar nicht nachvollziehen.“ Zudem sei das Merkmal „symbiotische Beziehung“ ein in der Psychologie und Psychiatrie „höchst umstrittenes Konstrukt“.
Dennoch beobachteten viele Fachleute, dass die Tendenz zunehme, gerade bei alleinerziehenden Müttern eine „symbiotische Mutter-Kind-Beziehung“ zum Anlass für eine Inobhutnahme zu nehmen. In den Fällen der Studie wurden die Entscheidungen des Jugendamtes nach Vorlage eines externen Gutachtens vom Familiengericht wieder korrigiert – meist erst Monate später.
„Jugendamt kann nur so gut arbeiten, wie es personell und materiell aufgestellt ist“
Der Vorstandsvorsitzender der Deutschen Kinderhilfe e. V., Rainer Becker, spricht in der Bundespressekonferenz über die neue Studie zu den Arbeitsrealitäten in den Allgemeinen Sozialen Diensten der Jugendämter.
Auch bei Joshuas Mutter war es ein Gutachten für das Oberlandesgericht Oldenburg, das ihr Anfang des Jahres die volle Erziehungsfähigkeit wieder zusprach und empfahl, das Kind unverzüglich zurück zur Mutter zu lassen. „Ich habe in letzter Zeit viele solcher Fälle“, bestätigt Velios’ Anwalt Rudolf von Bracken. Eine symbiotische Beziehung sei zu einem klassischen Vorwurf von Vätern geworden, wenn sich das Kind im Loyalitätskonflikt der Mutter zuwende.
Anja Kannegießer, Juristin und Psychologin, schreibt seit mehr als zehn Jahren Gutachten für Familiengerichte. „Natürlich gibt es symbiotische Eltern-Kind-Beziehungen, allerdings ist das in meiner Praxis selten“, sagt Kannegießer. „Ich halte es für schwer vorstellbar, nur aufgrund einer symbiotischen Mutter-Kind-Beziehung eine Kindeswohlgefährdung festzustellen.“
Im Ergebnis, so Kannegießer, müsste ein Gutachten die Frage beantworten, ob die Trennung des Kindes von den Eltern geeignet sei, eine Kindeswohlgefährdung abzuwenden. Die Beziehung zwischen Eltern und Kind sei dabei jedoch nur ein Aspekt in einer Gesamtkonstellation.
Was möchte das Kind?
„Ein ganz wichtiger weiterer Aspekt wäre der Kindeswille. Was möchte das Kind? Wie wird es außerdem gefördert? Wie ist die Kommunikationsbereitschaft zwischen den Eltern? Wie verhält es sich mit der Bindungstoleranz, also akzeptiert die Mutter, dass das Kind ein gutes Verhältnis zum Vater haben möchte und umgekehrt?“ Für Kannegießer müssten mehrere Dinge zusammenkommen, ehe eine zu enge Mutter-Kind-Bindung ein Kind ernsthaft gefährden könne.
Der Kindeswille hat im Fall von Joshua keine Rolle gespielt. Mit zwölf Jahren hatte der Junge einen Brief an seinen Verfahrensbeistand geschrieben: „Ich halte es in der Einrichtung nicht mehr aus. Ich darf meine Mama nicht sehen, warum ist das so? Ich fühle mich eingesperrt.“ Vor dem 1. Senat des Oberlandesgerichtes in Schleswig hatte Joshuas Flehen jedoch kein Umdenken in Gang gesetzt.
Ebenso wenig bei dem zwölfjährigen Karl aus Hammers Fallstudie. Vor der Inobhutnahme war er nach Aussage seiner Schule ein „lebensfroher, leistungsstarker Schüler“. Im Heim baute das Kind rasch ab, nahm binnen sechs Wochen zehn Kilo zu und agierte rebellisch.
„Er akzeptiert weder die Regeln der Einrichtung, noch zeigt er Einsicht, dass er nur hier eine Chance hat, sich von seiner Mutter zu befreien und sein Leben neu zu ordnen. Die Telefonate mit seiner Mutter und deren Briefe bringen ihn immer wieder zum Weinen und nähren in ihm die Hoffnung, bald wieder nach Hause zu dürfen“, so der Bericht der Einrichtung an das Jugendamt. „Für die nächsten drei Monate sollten deshalb die Kontakte zur Mutter eingefroren werden.“ Das Jugendamt folgte der Einschätzung.
Hammers Fallstudie ist nicht repräsentativ. Aber sie wirft ein Schlaglicht darauf, dass die Behörden im Namen des Kindeswohls selbst vor Grundrechtsverletzungen nicht zurückschrecken. Die Beschwerden der betroffenen Kinder reichten von Essstörungen über aggressives Verhalten bis hin zu Selbstmorddrohungen.
Der Soziologe hat seine Studie den Mitgliedern des Familienausschusses des Deutschen Bundestages und auch dem Mainzer Institut für Kinder-und Jugendhilfe zur Verfügung gestellt, das derzeit im Auftrag des Familienministeriums 700 Fälle hochproblematischer Kinderschutzverläufe auswertet und dem Bundestag Empfehlungen geben soll, was sich ändern muss.
„Der pauschale Grundsatz ,lieber einmal zu früh‘ kann und darf nicht zur Norm werden, denn er hat fatale Folgen für Eltern und Kind“, sagt Marcus Weinberg, familienpolitischer Sprecher der Unionsfraktion im Bundestag. Er beschäftigt sich schon lange mit der Zunahme der Inobhutnahmen in Deutschland. Schließlich sei klar, dass eine staatlich verordnete Kindessorge dem Kind nur in Extremfällen Besseres zu bieten habe als die elterliche Fürsorge.
Der langjährige frühere Familienrichter Hans-Christian Prestien plädiert sogar für eine Abschaffung des Paragrafen 42 Sozialgesetzbuch VIII, der Inobhutnahmen durch das Jugendamt regelt. Die Handhabung der Vorschrift sei häufig rechtswidrig, da vorrangig das Familiengericht über Sorgerechtsfragen zu entscheiden habe.
„Es vermischen sich Funktionen, die miteinander inkompatibel sind“, sagt Prestien. „Ein Vertrauensverhältnis zwischen Hilfesuchenden und Jugendamt kann nicht entstehen, wenn der Hilfesuchende befürchten muss, dass die gleiche Behörde im nächsten Augenblick gewissermaßen zur Polizei wird und das Kind von der Familie trennt.“
Joshuas Vater hat noch immer das alleinige Sorgerecht. Täglich wartet Antonia Velios auf einen Bescheid vom Gericht für einen neuen Verhandlungstermin. „Ich kann mir nichts anderes vorstellen, als dass ich das alleinige Sorgerecht zurückbekomme, aber nachdem, was ich erfahren habe“, sagt die Mutter, „muss man in diesem System mit allem rechnen.“
Die Namen von Familie Velios wurden geändert.
Quelle: WamS