Wohl dem, der sich wehrt. Passiert ist es dennoch und das Urteil heilt die Folgen nicht.

            BeckRS 2018, 38864

VG Gießen, Urteil vom 03.12.2018 - 4 K 5860/17.GI

Titel: Einstweilige Anordnung, Zuständiges Jugendamt, Polizeibeamter, Kindesmutter, Verwaltungsrechtsweg

Normenketten: HSOG §§ 44, 54 Abs. 1, 58 Abs. 1 S. 1, 59; HVwVfG §§ 5, 7; VwGO § 42 Abs. 2

Amtliche Leitsätze:

  1. Die Amtshilfepflicht von Behörden dient grundsätzlich nicht dem Schutz einzelner verfahrensbeteiligter Dritter, sondern nur dem Interesse der Allgemeinheit an einer effektiven Verwirklichung der Verwaltungsaufgaben.
  2. Eine Ausnahme besteht jedoch, wenn Grundrechtspositionen im Außenverhältnis durch die Amtshilfeleistung bereits unmittelbar verletzt worden sind.
  3. Die ersuchte Behörde ist grundsätzlich nicht verpflichtet, die Rechtmäßigkeit der im Wege der Amtshilfe zu verwirklichenden Gesamtmaßnahme zu prüfen.
  4. Nur wenn die ersuchte Behörde die Durchführung der Amtshilfe wegen des Fehlens der Voraussetzungen hätte verweigern müssen und sie dies nicht getan hat, trägt sie die Verantwortung.

Rechtsgebiete: Verwaltungsverfahren und -prozess, Sonstiges besonderes Verwaltungsrecht

Schlagworte: Vollstreckung, Unmittelbarer Zwang, Amtshilfe, Herausgabe

Fundstellen:

FamRZ 2019, 1328

LSK 2018, 38864

ECLI:

ECLI:DE:VGGIESS:2018:1203.4K5860.17.00

Tenor:

Es wird festgestellt, dass die Fesselung des Klägers durch das Anlegen von Handschellen durch die Polizeibeamten PHK A. und POKin U. in der Wohnung des Klägers am 19. Juli 2016 rechtswidrig war.

2 Der Kläger lebt mit Frau B., früher W., in einer gemeinsamen Wohnung in M-Stadt. Am Morgen des 19. Juli 2016 ersuchte das Jugendamt des Landkreises C. das Jugendamt des Landkreises F., einen Beschluss des Amtsgerichts Eberswalde vom 18. Juli 2016 (Az. 3 F 390/16) im Wege der Amtshilfe zu vollziehen. In dem Beschluss entschied das Amtsgericht Eberswalde im Wege der einstweiligen Anordnung, die minderjährigen Kinder der damaligen Lebensgefährtin und jetzigen Ehefrau des Klägers, O. und L. W., die bislang beide ihren Aufenthalt in einer Jugendhilfeeinrichtung in Joachimsthal hatten, müssten unverzüglich an das Jugendamt des Landkreises C. herausgegeben werden. Weiter wurde angeordnet, dass die Vollstreckung der einstweiligen Anordnung vor der Zustellung an die Kindesmutter zulässig und die einstweilige Anordnung mit ihrem Erlass wirksam sei. Das Amtsgericht Eberswalde ordnete in dem Beschluss auch an, dass sich das Jugendamt der Amtshilfe polizeilicher Vollzugsorgane bedienen dürfe, die zum Zwecke der Herausnahme der Kinder auch die Wohnung der Kindesmutter betreten dürften, wenn die Kindesmutter die Kinder nicht freiwillig herausgeben würde.

3 Zum Zwecke der Vollziehung des familiengerichtlichen Beschlusses richtete das Jugendamt des Landkreises F. am 19. Juli 2016 telefonisch ein Amtshilfeersuchen an die Polizeistation N. Noch am selben Tag betraten vier Mitarbeiterinnen des Jugendamts des Landkreises F. in Begleitung von PHK A. und POKin U. die Wohnung des Klägers und der Kindesmutter. Der weitere Verlauf der Maßnahme ist streitig. Zur Vollziehung des familiengerichtlichen Beschlusses legten die Polizeibeamten dem Kläger jedoch Handfesseln an. Nachdem die Mitarbeiterinnen des Jugendamts die Wohnung mit den Kindern wieder verlassen hatten, nahmen die Polizeibeamten dem Kläger die Handfesseln wieder ab.

… Mit Beschluss vom 16. November 2016 (Az. 6 F 777/16) entzog das Amtsgericht Bernau bei Berlin der Kindesmutter das Sorgerecht für die genannten Kinder, gleichzeitig hob es aber den Beschluss des Amtsgerichts Eberswalde vom 18. Juli 2016 auf. Zum einen sei der Beschluss rechtsfehlerhaft ergangen

6 Am 27. Juli 2017 hat der Kläger Klage erhoben. Zur Begründung führt er im Wesentlichen aus, das Handeln der Polizeibeamten sei rechtswidrig gewesen. Die Polizeibeamten hätten das Amtshilfeersuchen des Jugendamts des Landkreises F. ablehnen müssen, da der Beschluss des Amtsgerichts Eberswalde erkennbar rechtswidrig gewesen sei. Zunächst sei das Amtsgericht Eberswalde örtlich nicht zuständig gewesen. Darüber hinaus sei aber auch der Vollstreckungsteil des Beschlusses rechtswidrig. Die Vollstreckung familiengerichtlicher Beschlüsse erfolge nach dem Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FamFG). Nach den Regelungen des FamFG sei aber der Gerichtsvollzieher für die Vollstreckung des Beschlusses zuständig gewesen. Bei dem Jugendamt des Landkreises C., das in dem Beschluss zur Vollstreckung ermächtigt worden sei, handele es sich nicht um das nach dem FamFG zuständige Vollstreckungsorgan. Davon abgesehen habe das Jugendamt des Landkreises F. dem Jugendamt des Landkreises C. bei der Vollstreckung des Beschlusses aber auch keine Amtshilfe nach den Reglungen des Hessischen Verwaltungsverfahrensgesetzes oder des SGB X leisten dürfen, da es sich vorliegend nicht um ein Verwaltungsverfahren gehandelt habe. Unabhängig von diesen Erwägungen sei das Anlegen der Handfesseln aber auch deshalb rechtswidrig gewesen, weil es keinen Anlass für die Maßnahme gegeben habe. Der Kläger habe die Polizeibeamten nur nach einem Durchsuchungsbeschluss gefragt; im Übrigen habe er keinen Widerstand geleistet.

 

Entscheidungsgründe:

 

19 2. Der Kläger ist auch klagebefugt nach § 42 Abs. 2 VwGO. Private Verfahrensbeteiligte in einem Amtshilfestreit sind zwar in der Regel nicht unmittelbar in ihren eigenen Rechten betroffen, da die Entscheidung der ersuchten Behörde, der ersuchenden Behörde Amtshilfe zu leisten, als zwischenbehördliches Rechtsinstitut in der Regel keine unmittelbaren Auswirkungen im Außenverhältnis zu anderen Verfahrensbeteiligten entfaltet, so dass auch im Amtshilfeverkehr grundsätzlich Rechtsbehelfe gegen die Verfahrenshandlung der Amtshilfe mit dem zulässigen Rechtsbehelf gegen die Sachentscheidung einzulegen sind (vgl. Schmitz, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG [Stand: 9. Aufl. 2018], § 5, Rn. 41; BVerwG, Beschluss vom 14.07.2004 - 6 B 30/04 -, Rn. 7, juris). Die Amtshilfepflicht von Behörden dient grundsätzlich nicht dem Schutz einzelner verfahrensbeteiligter Dritter, sondern nur dem Interesse der Allgemeinheit an einer effektiven Verwirklichung der Verwaltungsaufgaben (vgl. BVerwG, Beschluss vom 26.08.1998 - 11 VR 4/98 -, NVwZ 1999, 535 = Leitsatz Nr. 3, juris). Eine Ausnahme besteht jedoch, wenn Grundrechtspositionen im Außenverhältnis durch die Amtshilfeleistungen bereits unmittelbar verletzt worden sind. …

 

 

24 II. Die Klage ist auch teilweise begründet.

25 1. Die Fesselung des Klägers in seiner Wohnung am 19. Juli 2016 durch die Polizeibeamten war rechtswidrig und hat den Kläger in seinen Rechten verletzt.

 

 

29 Da es sich bei der Fesselung um die Ausübung unmittelbaren Zwangs unter Einsatz des Hilfsmittels der körperlichen Gewalt handelt, ist diese auch nach Maßgabe des § 58 Abs. 1 Satz 1 HSOG grundsätzlich anzudrohen. Unstreitig ist jedoch vorliegend, dass dem Kläger die Fesselung nicht angedroht wurde. Entgegenstehendes haben die Beteiligten nicht vorgetragen und hat sich auch nicht aus der Beweisaufnahme ergeben. Davon abgesehen lagen aber auch die Voraussetzungen für ein Absehen von der Androhung der Fesselung nicht vor. Von der Androhung unmittelbaren Zwangs kann nach § 58 Abs. 1 Satz 2 HSOG nur dann abgesehen werden, wenn die Umstände dies nicht zulassen, insbesondere wenn die sofortige Anwendung des Zwangsmittels zur Abwehr einer Gefahr notwendig ist. Derartige Umstände waren vorliegend nicht gegeben.